Der liebe Stoff
Late to the party, aber ich hab auch eine Entschuldigung: Ich hatte noch kein Blog, als Bob Blume zur Blogparade "Stoffwechsel jetzt!" aufrief.
Anyway: Ich hoffe, ich bin nicht die einzige, die noch im 4. Semester bis fast zur letzten Stunde noch die letzten Themen abarbeitet. Und damit meine ich wirklich abarbeiten. Es ist ein ewiges "Das müssen wir noch machen." und "Das fehlt noch." Das kenne ich von den Englisch- und Politik-Kolleg:innen beispielsweise nicht so, da wird das 4. Semester zum ausgiebigen Wiederholen und Umwälzen der vorangegangenen drei Semester genutzt. Aber warum ist Mathe so anders?
Meine drei Thesen:
- Das Zentralabitur prüft alles ab.
- Mathematik baut aufeinander auf.
- Dank GTR und CAS und hilfsmittelfreiem Abiturteil unterrichten wir alles doppelt.
1. Das Zentralabitur prüft alles ab.
Das schriftliche Mathematik-Abitur besteht aus einem hilfsmittelfreien Teil und einem Wahl(-pflicht-)teil. Im hilfsmittelfreien Teil, der zwischen 60 und 90 Minuten dauert, kommen 5-8 Aufgaben zu allen Themen der Oberstufe (Analysis, Analytische Geometrie, Stochastik) dran. Schon in diesen ersten 1,5 Stunden des Abiturs muss ein Schüler also alle vier Semester (und die 11. Klasse) parat haben. Ich wage zu bezweifeln, dass das in anderen Fächern so ist. Im anschließenden längeren Wahlteil müssen die Schüler eine Aufgabe aus Analysis bearbeiten und zwei Aufgaben aus der Analytischen Geometrie und der Stochastik. Auch hier gilt also: Wirklich alles von Klasse 11 bis 13 wird geprüft.
Für den hilfsmittelfreien Teil sind Kenntnisse im Bruchrechnen und Rechnen mit negativen Zahlen erforderlich, auch das Lösen von quadratischen Gleichungen ist ganz nützlich, also Grundlagen aus der Sek I. Diese werden an Inhalten der Sek II (e-Funktionen, Vektorrechnung, Differenzialrechnung, Binomialverteilung) abgefragt. Man kann sich das so vorstellen, als ob im Deutsch-Abitur adverbiale Bestimmungen in Goethes Faust zitiert und analysiert, dann ein kurzes Diktat absolviert und eine kurze Gedichtanalyse (da Gedicht hat nur vier Zeilen) werden müssten. Oder im Erdkundeabitur alle Hauptstädte Europas aufgezählt und in die passenden Klimazonen eingeordnet, dann die wirtschaftliche Entwicklung der USA in sechs Zeilen zusammengefasst und schließlich noch kurz die städtebauliche Entwicklung von Hamburgs Parkanlagen erläutert werden soll. Hat man ja irgendwie alles parat und kann man locker in 60 Minuten aufschreiben. Für den Unterricht bedeutet dies eine regelmäßige Wiederholung aller(!) grammatischen Phänomene und Hauptstädte bis zur Oberstufe.
Im Wahlteil liegt der Schwerpunkt auf der Sek II. In Analysis sind das beispielsweise die Themen der Kurvendiskussion (ohne diese als solche vollständig durchzuführen) als Untersuchung von Eigenschaften einer Funktion und ihres Graphen: Nullstellen, Symmetrie, Globalverhalten, Monotonie, Extrem- und Wendepunkte. Und immer wieder Tangenten. Alles Themen der 11. Klasse, die in der 12. und 13. Klasse vertieft werden. In dieser groben Aufzählung wirkt das nicht so viel. Aber die Abiaufgabe ist zunächst einmal eine Modellierungsaufgabe und schon das Basiswissen kann darin auf vielfältige Weise abgefragt werden:
- Berechne die Steigung der Tangente am Graphen von f im Punkt A.
- Berechne den Grenzwert der Sekanten durch den Punkt A und einem beliebigen Punkt B auf dem Graphen von f.
- Berechne die Ableitung von f an der Stelle a.
- Berechne die momentane Änderungsrate zum Zeitpunkt a.
- Berechne die Steigung des Graphen von f an der Stelle a.
Fünfmal die gleiche Aufgabe! Allein mit diesem Sprachenspiel könnte man Wochen füllen. Und das kann man auch mit Extrem- und Wendepunkten und der Monotonie anstellen. Das Thema Differenzialrechnung ist sprachlich und mathematisch sehr komplex und zurecht erst in der 11. Klasse angesiedelt. Von der komplett neuen Sichtweise auf Grenzwerte und das Steigungsverhalten von Funktionen möchte ich gar nicht erst anfangen. Mit der früheren Kurvendiskussion, in der man nur dasselbe Schema auf unterschiedliche Funktionen anzuwenden brauchte, hat das wenig zu tun. Und selbst da war man schon mit immer neuen Gleichungen und Eigenschaften konfrontiert. Heutzutage sollen Schüler aber nicht nur alle Rechnungen der Kurvendiskussion parat haben (ohne dass man sie "Kurvendiskussion" nennt), sondern sie auch noch sprachlich im passenden Kontext deuten.
2. Mathematik baut aufeinander auf.
Ganz banal erkennt doch jeder eine lokale Extremstelle: Die Beule da im Graphen. Das mathematisch auszudrücken beinhaltet Begriffe wie "genügend kleine Umgebung", "Nullstelle", "Ableitung", "Vorzeichenwechsel" oder "Krümmung". Nullstellen wiederum sind Lösungen von Gleichungen, je nach Funktionstyp Thema der 8. (Lineare Funktionen), 9. (Quadratische Funktionen), 10. (Exponential- und trigonometrische Funktionen) oder 11. Klasse (Potenz- und ganzrationale Funktionen). Löst man diese ohne GTR/CAS, werden dazu Kenntnisse im Umgang mit Brüchen und Dezimalzahlen (Klasse 5/6), mit negativen Zahlen (Klasse 7/8), mit irrationalen Zahlen (Klasse 9), mit Potenzen (Klasse 9/10), mit Äquivalenzumformungen (Klasse 7/8) und natürlich mit Variablen (Klasse 7/8) benötigt.
Für die Gleichung kommt man im Prinzip nicht um Bruchrechnung und negative Zahlen herum. Auch wenn es immer wieder Bestrebungen gibt, die Bruchrechnung als unwichtig anzusehen (man kann ja alles dezimal darstellen und überhaupt, wer hat schon jemals Brüche in freier Wildbahn gesehen?), ist sie Grundlage dafür, die Extremstellen der Funktion f mit ohne Taschenrechner und per Ableitung zu berechnen (wofür auch immer man DAS nun wieder braucht). Womit wir beim nächsten Punkt wären:
3. Dank GTR und CAS und hilfsmittelfreiem Abiturteil unterrichten wir alles doppelt.
Die Schulmathematik läuft derzeit auf zwei Schienen: Die der "abstrakten" Mathematik und die der Modellierung. Beide haben in der Schule durchaus ihre Berechtigung: Während die abstrakte Mathematik den innermathematischen Zusammenhang herstellt, stellt die Modellierung die Frage "Wozu braucht man das überhaupt (jemals im Leben)?".
Greifen wir mal das Beispiel Extrempunkte auf. Im abstrakten Zusammenhang sind Extremstellen Nullstellen der 1. Ableitung mit Vorzeichenwechsel, also Lösungen einer Gleichung mit weiteren Bedingungen, die man mit Hilfe von Äquivalenzumformungen berechnen kann. Das Ergebnis ist eindeutig.
In der Modellierung geht es beispielsweise um die Frage, zu welchem Zeitpunkt die meisten Menschen in einem Stadion sind (als Event-Planer sicherlich nicht ganz unwichtig, wenn man zum richtigen Zeitpunkt die teuerste Werbung schalten möchte, die von möglichst vielen Menschen gesehen wird... oder so). Die Exaktheit des Ergebnisses spielt hier eine untergeordnete Rolle:
- die Funktion selbst kann schon aus vorangegangenen Messdaten ungenau ermittelt worden sein
- Zeitpunkte sind in der Praxis je nach Zusammenhang nur auf ganze Minuten oder auf hundertstel Sekunden genau messbar
So muss auch der Rechenweg nicht über Äquivalenzumformungen gehen, sondern kann näherungsweise über Tabellen oder den Graphen erfolgen, denn es genügen schon wenige Nachkommastellen. Womit wir beim Hilfsmittel GTR/CAS wären. Der kann das nämlich recht zügig. Wenn man weiß wie. Denn die Bedienung eines GTR/CAS ist, verglichen mit einem gewöhnlichen Taschenrechner, deutlich komplizierter. Jeder Befehl verbirgt sich hinter einem anderen Menü, für jeden Befehl gibt es weiterhin eine eigene Tastenkombination, zudem muss das Fenster für den Graphen passend eingestellt sein. Diese Bedienung muss vorgestellt und geübt werden, sonst sind die Aufgaben im Abi nicht oder kaum noch lösbar. Als Informatiklehrer rollen sich mir dabei die Fußnägel hoch, denn wir lehren ausschließlich die Bedienung des GTR/CAS, ohne auf die Funktionsweise des Geräts einzugehen, geschweige die Bedienung auf andere Geräte übertragbar zu machen (Was beim Casio soundso funktioniert, muss beim TI ganz anders eingegeben werden. Und bei GeoGebra ist wieder alles anders.).
Die Berechnung von Extrempunkten, um bei diesem Beispiel zu bleiben, wird daher auf zwei Wegen unterrichtet: Über Nullstellen der 1. Ableitung, Äquivalenzumformungen, Vorzeichenwechsel und über die GTR/CAS-Bedienung. Beide Wege brauchen Zeit, die dann wiederum für eine echte Vertiefung fehlt. Im Grunde unterrichten wir jedes Thema doppelt und oberflächlich, ohne einen echten Verständnisgewinn.
Dilemma oder Lösung?
Soll der Stoff zu schaffen sein, müssen wir uns zunächst von einer der beiden Schienen verabschieden. Dies könnte durch eine Art taschenrechnerfreie Abschlussklausur in der 9. oder 10. Klasse geschehen, als Ersatz für eine der 4 Klassenarbeiten in dem Schuljahr. Dafür kann auf den hilfsmittelfreien Teil im Abitur und in den Oberstufenklausuren verzichtet werden. Nachteil: Unirelevante Themen wie der Differentialquotient selbst rücken dann noch weiter in den Hintergrund, da sie nicht mit dem GTR/CAS abgebildet werden können. Dafür bräuchte man nicht mehr jede Funktionsklasse einzeln abarbeiten.
Oder wir verzichten auf den regelmäßigen Einsatz des GTR/CAS und nutzen nur den gewöhnlichen Taschenrechner. Wenn vereinzelt modelliert wird, können GTR/CAS/Tabellenkalkulation etc. anwendungsgerecht eingesetzt werden. Nachteil: Die Anwendung rückt in den Hintergrund, die Aufgaben enthalten weniger realistische Zahlen, damit die Rechnungen in angemessener Zeit händisch gelöst werden können.
Doch dazu muss die Schulmathematik grundsätzlich erstmal einen Weg zwischen der Mathematik als (Wissenschafts-)Fach und dem Anwendungsbezug neu aufstellen. Was braucht es wirklich, um Differenzial- und Integralrechnung zu verstehen? Was baut worauf auf? Liebgewonnene Traditionen (Binomische Formeln! pq-Formel!) würden dadurch zwar möglicherweise herausfallen, aber dafür Platz für eine echte Auseinandersetzung mit der Mathematik schaffen.